Vor Gericht
Von
wem ich's habe, das sag
ich euch nicht,
Das
Kind in meinem Leib.
„Pfui“,
speit ihr aus, „die
Hure da!“
Bin
doch ein ehrlich Weib.
Mit
wem ich mich traute,
das sag ich euch nicht,
Mein
Schatz ist lieb und
gut,
Trägt
er eine gold'ne
Kett am Hals,
Trägt
er einen strohernen
Hut.
Soll
Spott und Hohn getragen
sein,
Trag
ich allein den Hohn.
Ich
kenn ihn wohl, er kennt
mich wohl,
Und
Gott weiß auch
davon.
Herr
Pfarrer und Herr Amtmann
ihr,
Ich
bitt, laßt mich
in Ruh!
Es
ist mein Kind und bleibt
mein Kind,
Ihr
gebt mir ja nichts dazu.
Dieses Gedicht war aber
nur die eine Seite der Medaille: Die andere war, dass Goethe selbst,
als Mitglied des obersten Weimarer Gerichts und Berater des Herzogs
Carl August für die Enthauptung einer Kindesmörderin stimmte.
Das entsprechende Dokument datiert vom 4.11.1783.
Die Kindsmörderin
hieß Anna Catharina Höhn. Sie hatte im April selbigen Jahres
ihren Sohn kurz nach der Geburt mit drei Messerhieben erstochen. Am 25.
September wurde die Höhnin von einem ordentlichen Gericht zum Tod
durch das Schwert verurteilt, obwohl während des Prozesses Zweifel
aufkamen, ob es sich beim Opfer überhaupt um eine Lebendgeburt
gehandelt hatte. Der oberste Landesherr Carl August war von der
Notwendigkeit der Todesstrafe nicht überzeugt. Er schaltete sein
Geheimes Conseil ein, das aus den Herren Schnauss, Fritsch und Goethe
bestand, und bat um juristischen Rat.
Schnauss und Fritsch kamen der Aufforderung umgehend nach; der erste
war für die Hinrichtung der Delinquentin; der andere, Fritsch,
Vorsitzender des Conseils, unterstützte Carl Augusts
reformatorische Ansichten und plädierte dagegen. Damit hatte
Goethe die Rolle des Züngleins an der Waage zu übernehmen,
und so erklärte er, die vollkommen unterschiedlichen Meinungen
seiner Kollegen gänzlich missachtend: Da das Resultat meines
unterthänigst eingereichten Aufsatzes mit beyden vorliegenden
gründlichen Voti völlig übereinstimmt, so kann ich um so
weniger zweifeln selbigen in allen Stücken beyzutreten, und zu
erklären dass auch nach meiner Meinung räthlicher seyn
mögte die Todesstrafe beyzubehalten.
Noch am gleichen Tag setzte der Herzog seine Unterschrift unter das
Urteil. Am achtundzwanzigsten elften wurde Anna Catharina enthauptet
und damit vom Leben in den Tod gebracht. Es geschah an der Stelle, die
heute Goetheplatz heißt.