Vernünftige Prügel -
die
Kindheit in der großbürgerlichen Familie - Die
Kindheit in der Arbeiterfamilie - Die
Kindheit in der bäuerlichen Familie - Die
Kindheit im Adel
Zu Beginn des 19. Jahrhunderts fand dann eine tiefgreifende Umwandlung der sozialen und emotionalen Beziehungen in der Familie statt. Durch die Veränderung der Arbeitsverhältnisse in der industriellen Revolution wurde die Arbeit aus dem Haus in Fabriken verlegt, wodurch sich eine klare Trennung von Arbeitsplatz und Wohnstätte ergab. Durch die neu entstandene Industrie zog es viele Menschen vom Land in die dadurch geschaffenen Fabrikstädte, die in der Nähe von Kohlenrevieren waren.
Die Trennung von Wohnraum und Arbeitsplatz bot der Frau und Mutter einen neuen Freiraum, welcher der Zuwendung von Wohnung und Kindern zu Gute kam.
Grundbesitzer, Fabrikbesitzer, Geschäftsleute und Ladeninhaber verdienten an den neuen Fabriken und Fabrikwaren viel Geld, deshalb entwickelte sich in der damaligen bürgerlichen Gesellschaft auch die typische Erscheinung, daß die Kinder viel Spielzeug und Kindermöbel bekamen. Die Bürgerfamilien begannen ihren Kindern einen eigenen Wohnbereich einzuräumen, der mit eigenen kindgerechten Möbeln und Spielgelegenheiten dem kindlichen Bedürfnis entgegenkam. Und doch war ein eigenes Kinderzimmer in der damaligen Gesellschaft noch keine Selbstverständlichkeit, und es hieß schon viel, wenn ein Kind seine eigene Spielecke im Wohnzimmer besaß.
Spielzeug und Spiel galten
besonders in bürgerlichen Familien als wichtige Vorbereitung auf das
Erwachsenenleben und dienten der Rollenfixierung zwischen Knaben und Mädchen.
So waren zum Beispiel Baukästen, Ritterburgen, Kaufmannsläden
und Spielzeuggewehre für Jungen eine spielerische Hinführung
zum Beruf des Geschäftsmanns oder des Soldaten. Dahingegen sollten
Puppen und Puppenstuben, Spielzeugbügeleisen und Nähmaschinen
die Mädchen auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter vorbereiten. Gedruckte
Brettspiele für die Kinder, bei denen man mit Blei- oder Zinnfiguren
je nach Würfelleistung vorrückte, waren mit der Entwicklung der
Papier- und Kartonherstellung seit dem beginnenden 19. Jahrhundert ebenfalls
in Mode gekommen.
Der Kauf von Spielzeug besserer
Qualität blieb jedoch bis ins späte 19. Jahrhundert der bürgerlichen
Oberschicht mit ausreichendem Einkommen vorbehalten.
Kindern gegenüber wurde in den bürgerlichen Familien zunehmend mehr Verständnis aufgebracht und sie bildeten eine eigene soziale Gruppe. Spielzeug und auch Kleidung halfen dabei, sie immer mehr vom Erwachsensein abzugrenzen. Die Kleidung der Kinder allgemein wurde lockerer und bequemer und eher kindgerecht als traditionell. Die Bevölkerung suchte eine natürliche Kleidung für die Kinder und fand dabei in der Arbeitstracht der Matrosen ein passendes Vorbild. Dadurch entwickelte sich bereits um 1800 der Matrosenanzug als typisches Kleidungsstück. Er galt als zweckmäßig und war im Interesse der Kinder, denn sie hatten viel Bewegungsfreiheit und der Stoff war nicht zu schmutzanfällig. Somit galt der Anzug als typisch bürgerlich.
Damit sie ihre Miete und ihr Essen bezahlen konnten, mußten auch die Frauen und Kinder in den Fabriken arbeiten. Dadurch wurde die Wohnung nur noch zur Schlafstätte. Bereits schon im Alter von zehn Jahren mußten die Kinder zehn bis vierzehnstündige Fabrikarbeit leisten und hatten daher kaum Freizeit. Die Arbeiterklasse verkam zu einer Menschengruppe ohne soziale Bindung und Geborgenheit. Ihr fehlte die Zeit, die Kraft und auch materielle Mittel, um eine eigene Kultur und Lebensqualität aufzubauen. Kinder galten nicht mehr als „Segen", sie galten nur noch als zu teuer, stressig und als zu zeitaufwendig. Dadurch gingen die Familienwerte total verloren.
Aufgrund der schlechten Wohnverhältnisse, der mangelhaften Ernährung und wenig Zeit für Bildung - viele Kinder lernten nie richtig Lesen und Schreiben - waren geringe Zukunftschancen bereits vorprogrammiert.
Die Kinder waren so arm, daß sie tragen mußten, was gerade für sie bereitlag. Selten hatten sie Kleidungsstücke zum Wechseln.
Die Eltern versuchten, ihre Buben so früh wie möglich eine Lehre machen zu lassen. Von da an lebten sie beim Lehrmeister. Ein 14-jähriger Lehrbube berichtet, daß sein Nachtlager ein jahrelang nicht mehr gefüllter Strohsack war. Zum Zudecken hatte er alte Kleider, Mäntel und Unterröcke. Auf dem Strohsack lag man zu dritt in einem ungeheizten Vorzimmer. Tagsüber war das „Bett" in einem Kasten versperrt und wurde nie ausgeschüttelt, gelüftet oder erneuert.
Der frühe Eintritt in die Arbeitswelt verkürzte die Kindheit in erheblichem Maße.
Das Sorgebedürfniss für die Kinder beschränkte sich hauptsächlich auf Ruhighalten und auf körperliche Sicherheit. So wurden zum Beispiel noch „Gehschulen" zum Laufenlernen verwendet, ein vierbeiniges Holzgestell, an dem sich das Kind festhalten konnte.
Das Hemdröckchen der Kleinen als allgemeine Kleidung und das Schlafen in der Wiege blieb in den Bauernfamilien erhalten, wo hingegen in städtischen Bürgerstuben dies durch Gitterbetten und Stubenwagen ersetzt wurde.
Sobald die Kinder sich einigermaßen sauber hielten, wurden sie in die Tracht gesteckt. Nun traten sie ein in das Kleidungssystem der Erwachsenen, denn die Kindertracht stimmte im Schnitt und Material mit der allgemeinen Dorftracht überein. Die Farbe der Tracht war geprägt durch Altersgruppen. Schon kleine Mädchen erhielten die Rockfarbe, die ledigen Frauen zugeordnet war, und diese Farbe hielten sie dann auch bis zur Hochzeit bei. Nur die Kopfbekleidung und die Frisur wurden verhältnismäßig kindlich gehalten.
Da auch Bauernfamilien nicht wohlhabend waren, schliefen die Eltern eng gedrängt mit vier Kindern in zwei Betten.
Mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht, die sich allmählich im 19.Jahrhundert durchsetzte, wurde die feste Dorfordnung, bestimmt durch Grundbesitz und Abstammung, durch die Kinder zum erstenmal ansatzweise durchbrochen. Die weiten Schulwege, überfüllte Klassen und arme Eltern, die in der Notlage auf die Hilfe der Kinder angewiesen waren, führten aber auch oft dazu, die alten Maßstäbe beizubehalten. Feldarbeit ging generell dem Schulbesuch vor. Eine wichtige Voraussetzung für den Schulbesuch im Winter war der Besitz von Schuhen, welche für viele Bauernfamilien unerschwinglich waren.
Ältere Töchter wurden noch nach rein wirtschaftlichem Prinzip verheiratet. Sie sollten einen Reichen heiraten. Zuneigung spielte dabei keine Rolle. Dann bekam die Familie noch etwas von seinem Vermögen ab und außerdem war die Existenz der Tochter gesichert. Bürgerkinder erfuhren im übrigen kaum etwas von den erbärmlichen Verhältnissen von Bauernfamilien. Ein Dorf, mit naivem Landvolk in seiner Tracht und vielen interessanten Sitten und Gebräuchen galt für sie noch als heile Welt.
Ein wichtiger Schritt zum Ende der Kindheit in allen Klassen war die Konfirmation oder die Firmung mit knapp vierzehn Jahren. Er wurde von einem Kleidungswechsel begleitet. Für die armen Kinder in Stadt und Land bedeutete dieses kirchliche Fest das Ende der Kinder- und Jugendjahre und den Eintritt in Lehre und Dienst. Die Kindheit bei den Eltern galt als beendet und nun waren die meisten Kinder von ihrem Lehrmeister abhängig.
Für Kinder der besseren
Bürgerfamilien bedeutete die Konfirmation keinen derartigen Einschnitt.
Sie begannen Tanzstunden zu nehmen und Feste und Bälle zu besuchen.
In sehr feinen Familien wurde Tanz- und Anstandsunterricht auch schon viel
früher gegeben, damit die Kinder in die Verhaltensweisen ihres Standes
hineinwuchsen. Die
Bälle galten damals nicht nur als Vergnügen, sondern sie waren
auch Gelegenheit zur Gattenwahl. Die jungen Männer suchten sich ihre
Gemahlin dabei nicht nur nach Aussehen und Charakter aus, sondern auch
nach der zu erwartenden Mitgift.
Kinder, die zur Zeit des
beginnenden 19. Jahrhunderts lebten, hatten, verglichen zur heutigen Zeit,
eine deutlich kürzere Kindheit, verbunden mit vielen Pflichten und
Einschränkungen. Jedoch kann man sagen, daß zu dieser Zeit die
Kinderkultur allmählich begann sich auszuprägen und sich von
dem Leben der Erwachsenen löste und abgrenzte.